Ulrike Syha, Foto: Bob Lahola Photography
Ulrike Syha, Foto: Bob Lahola Photography

Ulrike Syha gewinnt mit ihrem Theaterstück »Der öffentliche Raum«

»DER ÖFFENTLICHE RAUM porträtiert eine Stadtgesellschaft, die in vielen Fragen gespalten ist. Die Fronten scheinen sich immer weiter zu verhärten. Gräben tun sich auf zwischen denen, die Sicherheit für das höchste Gut halten, und denen, die in dieser Tendenz eine gefährliche Militarisierung ihres privaten und öffentlichen Lebens sehen, eine Ausgrenzung anderer.«

Ulrike Syha, geboren 1976 in Wiesbaden, studierte Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« in Leipzig. Noch während des Studiums begann sie als Regieassistentin am Schauspiel Leipzig zu arbeiten, wo sie von 1999 bis 2002 fest engagiert war.
Seit 2003 lebt sie als freie Autorin in Hamburg. Sie wurde u. a. mit dem Kleist-Förderpreis für Junge Dramatiker (2002), dem Hamburger Förderpreis für Literatur (2010) und dem Walter-Serner-Preis (2015) ausgezeichnet. Sie war Hausautorin am Nationaltheater Mannheim (2009/2010) und Writer-in-Residence in Nanjing, China (2015), Novo Mesto, Slowenien (2016) und anderen Städten. 2017 erhielt sie das Arbeitsstipendium der Hamburger Behörde für Kultur und Medien in Millemont, Frankreich. Ihre Stücke wurden mehrfach zu den Mülheimer Dramatiker-Tagen eingeladen. 2018 erhielt Ulrike Syha für ihr Stück »Drift« den Autorenpreis des Heidelberger Stückmarkts.

Laudatio

»Wer ist das eigentlich, diese Öffentlichkeit?«, lässt die Dramatikerin Ulrike Syha eine ihrer Figuren sagen, »und warum bitte ist sie so verdammt empfindlich?« Syhas Theaterstück »Der öffentliche Raum« fordert eine besondere Bühnenaufteilung: eine Wand in der Mitte, die Zu-schauer sollen jeweils nur einen Teil des Geschehens sehen können. Eine Regieanweisung, die sofort klar macht, worum es in diesem Text geht: um eine gespaltene Gesellschaft, um eine Debatte, die sich immer mehr auf zwei Fronten zuspitzt und in der die eine Seite die Position der anderen gar nicht mehr sehen kann oder will. In Syhas Stück zieht sich diese trennende Wand sogar durch eine Fa-milie: Der Mann wurde Zeuge eines Überfalls auf einen Linienbus und verrennt sich seitdem in einem paranoiden Sicherheitsbedürfnis, seine Frau ist frustriert von der Wirkungslosigkeit ihrer interkultu-rellen Arbeit für eine Stiftung und trollt deshalb in Internetforum herum, die pubertierende Toch-ter ist derweil auf der Klima-Demo. Die Jury findet: ein originell umgesetzter und vor allem höchst aktueller Stoff, der die großen Fragen nach den Regeln unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens im konkreten wie auch im virtuellen öffentlichen Raum behandelt und zeichnet Ulrike Syha deshalb mit dem Hamburger Literaturpreis 2019 in der Kategorie Lyrik, Drama und Experimentelles aus.
Judith Liere

»Der öffentliche Raum« Textauszug

DIE FRAU
Im Arbeitsalltag sind wir gebeten, auch in unserem ureigenem Interesse, ein gewisses Maß an Höflichkeit zu wahren, mit den Kooperationspartnern, den Kollegen, den Kontakten im Ausland – DER ÖFFENTLICHKEIT – aber manchmal denke ich – WER IST DAS EIGENTLICH, DIESE ÖFFENTLICHKEIT? UND WARUM BITTE IST SIE SO UNGLAUBLICH EMPFINDLICH? – vielleicht entspricht das alles gar nicht unserem Naturell, diese Domestizierung, diese Fixierung auf andere, auf das unbekannte Wesen am anderen Ende des Tisches, der Telefonleitung, des Glasfaserkabels, vielleicht wollen wir hin und wieder einfach die Axt in die Hand nehmen, verbal zumindest, und unserem Gegenüber den Schädel einschlagen – VERBAL ZUMINDEST – vielleicht, ja, sind wir einfach sehr viel weniger zivilisiert, als wir uns das eingestehen wollen – SEHR VIEL WENIGER AM KUNDEN INTERESSIERT ALS AN UNS SELBST – Punktesysteme – Onlinerezensionen – DAS GEBOT DER ACHTSAMKEIT – Yoga – brüllende Menschen in Hotlines – ZIEHEN SIE BITTE EINE NUMMER – Yoga – wir beantworten jede Kundenanfrage, auch wenn sie weder Rechtschreib- noch allgemeinen Benimmregeln folgt, das ist unser Betriebscredo – UND MEDITIEREN SIE IN IHRER FREIZEIT BITTE, JA? IHRE ARBEITSKRAFT MUSS UNS SCHLIESSLICH ERHALTEN BLEIBEN – vielleicht bin ich ja nicht die Einzige, die irgendwie ein Ventil sucht.

Vetreten durch den Rowohlt Theater Verlag, Hamburg.