Tamar Noort, Foto: privat
Tamar Noort, Foto: privat

Tamar Noort wird für ihren Roman »Ans Licht« ausgezeichnet

»Erst sind es nur Worte, die ihr nicht mehr einfallen. Dann verschlägt es ihr die Sprache. Als sogar der Himmel sich gegen sie verschwört, weiß Elke endgültig, dass sie es sich mit höheren Mächten verscherzt hat. Elke hat fortschreitende Gott-Demenz: nach und nach verschwindet alles aus ihrem Leben, was mit dem Allmächtigen zu tun hat. Offenbar zieht Gott sich aus ihrem Leben zurück und nimmt alles mit, was ihr bisher heilig war. Das Problem: Elke ist Theologin. Sie arbeitet als freie Seelsorgerin und Pastorin, und ein Leben ohne Gott kann sie sich buchstäblich nicht leisten.«

Tamar Noort, geboren 1976 in Göttingen, ist in den Niederlanden aufgewachsen. Studium der Kunst- und Medienwissenschaften und Anglistik an den Universitäten Oldenburg und Newcastle upon Tyne. Ab 2009 freie TV-Autorin und Producerin mit dem Schwerpunkt Wissenschaft. Dokumentationen für ARTE, ZDF und 3sat. 2012 Abschluss der Masterclass Non-Fiction an der Internationalen Filmschule Köln. Seit 2017 als Regisseurin, Autorin und Producerin für nonfiktionale Formate tätig für die Gruppe 5 Filmproduktion in Köln und Hamburg.

Laudatio

»In für sie zunächst nicht vorauszusehenden Momenten – als sie am Sterbebett
einer alten Dame das Vater Unser sprechen soll oder als sie in der Sprecherkabine eines Radiosenders zu ihrer regelmäßigen Rundfunkandacht ansetzt – fehlen Tamar Noorts Protagonistin, der jun-gen Pastorin Elke, plötzlich die Worte. Elke fürchtet eine einsetzende Frühdemenz, doch nach einem Nachmittag voller nur lückenhaft erinnerter Kirchenlieder und Gebete jedoch fehlerfrei rezitierter Gedichte ohne Bezug zum Religiösen diagnostiziert ihr atheistischer Freund Jan ihr etwas anderes: Elke leidet an Gottdemenz.
Allein für dieses Ausgangsszenario, in dem die inneren Unsicherheiten der Pastorin Elke in einer got-tesbezogenen Sprachlosigkeit münden, hätte die Autorin eine Auszeichnung verdient; die sich daraus entwickelnde Geschichte verdient sie nicht weniger: Wie Elke sich auf die Suche nach den Ursachen für ihre Gedächtnislücken begibt, schildert Tamar Noort kurzweilig und mit lakonischem Witz. Ihre Figuren sind lebendig und liebevoll gezeichnet, ihre Dialoge ungekünstelt und originell, ihre Dar-stellung norddeutscher Insellandschaften und Provinzkäffer in ihrer wunderbaren Tristesse absolut überzeugend.
Ihre Suche führt Elke als neue Dorfpastorin in die kleine Gemeinde Edena, wo sie hofft, sich vor den großen Fragen des Lebens verstecken zu können. Doch das Leben macht auch vor einem kleinen Dorf nicht halt und holt Elke und ihre neue Gemeinde ein. Ob und wie sie in Edena zu einstigen Glau-bensgewissheiten zurückfindet oder in ihren zehrenden Zweifeln bestärkt wird, das ist die spannende Frage, die diesen Roman trägt und ihn in unseren Augen so unbedingt lesenswert macht.«
Judith Weber

»Ans Licht« Textauszug

Ausgerechnet Edena. Von allen Orten dieser Welt, die man lieben könnte, Paris oder Hamburg oder sogar Osnabrück, habe ich mein Herz ausgerechnet an Edena gehängt, und damit mein Schicksal besiegelt. Ich könnte sagen, dass Edena mich um den Verstand gebracht hat, aber das wäre wohl nicht ganz fair, schließlich war es mein Verstand, und um den bringt man sich doch wohl selbst. Edena sticht durch nichts hervor. Wirft man es mit allen Dörfern dieser Erde in einen Topf, könnte keine Lottofee der Welt aus diesem Los einen Glückstreffer machen. Und doch hatte ich genau dieses Gefühl, als ich Edena zum ersten Mal betrat.
Ich kam mit dem Bus, und schon die Anreise war eine Odyssee aus Bahnhöfen, Bushalten und ausgemergelten Orten. Aber auf den letzten Kilometern hatte ich das Gefühl, dass etwas Bedeutsames bevorstand. Als ob mein Leben kurz davor war, diese eine entscheidende Wendung zu nehmen, die man erst später als den Punkt erkennen wird, an dem alles begann oder alles endete. Ich war bereit, Edena zu lieben, und sobald wir das Ortsschild passierten, setzte die Liebe ein, als wäre es ein Naturgesetz, so zwingend wie die Thermodynamik oder die Gravitation. Und so sah ich, als der Bus hielt, nicht die menschenleeren Straßen oder die kahlen Bäume, die mickrig um den Marktplatz standen. Ich sah nicht die längst geschlossene Kneipe, in dessen Fenster ein Gerippe von Ficus auf Erlösung wartete. Ich sah noch nicht einmal die pickeligen Jugendlichen, die an der Haltestelle abhingen und eine Chipstüte herumreichten.
Als ich aus dem Bus stieg, sah ich einen älteren Herrn im feinen Zwirn, der kerzengerade auf seinem Rasentraktor saß und den Hut lupfte, bevor er den Bus überholte. Der dickliche Labrador an seiner Seite musste vom Trab in Galopp wechseln und sah aus, als wüsste er, dass er das alles nur sich selbst und seiner Vorliebe für Leberwurstschnittchen zu verdanken habe.