Frank Schliedermann, Foto: Tara Wolff

Frank Schliedermann wird für seine Erzählung »Dorval, Quebec« ausgezeichnet

Dorval ist eine kanadische Kleinstadt in der Nähe von Montreal. Im April 2020 entdeckten Polizisten und Mitarbeiter des Gesundheitsamts dort die verheerenden Zustände in einem Altenheim. Nahezu das gesamte Personal der Herron Résidence war aus Angst vor einer Covid-19-Ansteckung nicht mehr zur Arbeit erschienen. Die Bewohner blieben tagelang sich selbst überlassen. Einige waren unterernährt, als man sie fand, dehydriert und in desolatem Allgemeinzustand. Für 31 Menschen kam jede Hilfe zu spät.

Frank Schliedermann, geboren 1973, arbeitete viele Jahre als Werbetexter für Autos, Deos, Motorsägen und Haarwuchsmittel, ehe er begonnen hat, Kurzgeschichten zu schreiben. Seitdem wurden mehrere seiner Texte in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht sowie bei Wettbewerben prämiert. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Laudatio

So könnte es gewesen sein. Mit diesem Satz ließe sich Frank Schliedermanns Erzählung »Dorval, Quebec« programmatisch überschreiben, und doch griffe die Überschrift zu kurz. Frank Schliedermann hat sich tief hineingedacht ins Innere des Schauplatzes und in seine Figuren. Meisterhaft zeichnet er ein vielstimmiges Bild des Möglichen, ein Mosaik der unterschiedlichen Wahrnehmungen: der Heim-Bewohner*innen einerseits, ihrer Pflegekräfte und der Pflegedienstleitung andererseits. Ohne je zu urteilen oder zu hierarchisieren, entwirft er diese widersprüchlichen Wirklichkeiten und betont damit den Umstand, dass jeder Blick naturgemäß perspektiviert und damit begrenzt ist. Wie ein jeweils eigener Film stehen die Wahrheiten der Einzelnen für sich und verdichten sich doch immer mehr zu einem Ganzen. Der empathischen Tiefe steht eine formale Knappheit gegenüber, eine pointierte Atemlosigkeit, die die zunehmende Beklemmung im sich steigernden Ausnahmezustand ausgezeichnet einfängt.
Ausgedacht: ja. Dem Leben entnommen: ja. Mit »Dorval, Quebec« zeigt Frank Schliedermann auf beste Weise, was Fiktion vermag: Sie macht die Wirklichkeit erfahrbar und verstehbar.
Julia Ditschke