Katrin Seddig, Foto. Bruno Seddig
Katrin Seddig, Foto. Bruno Seddig

Katrin Seddig gewinnt mit einem Auszug aus ihrem Roman »Eine deutsche Familie«

»Ich erzähle, wie Menschen, die sich eigentlich mögen, die zusammengehören, zu Feinden werden oder doch zu Menschen, die sich partiell feindlich gegenüberstehen, in einer Situation, in der eine grundsätzlich unterschiedliche Einstellung zu Staat, Gesellschaft, Demokratie, zum richtigen Leben sich, sozusagen, offenbart.«

Katrin Seddig, geboren 1969 in Strausberg, studierte Philosophie in Hamburg, wo sie auch heute mit ihren beiden Kindern lebt. Über ihren Roman »Runterkommen» (2010) schrieb die »taz«: »Ein brillantes Debüt … Anrührend, witzig und nüchtern.« 2012 erschien »Eheroman«, zu dem »Der Tagesspiegel» meinte: »Grandios, wie Katrin Seddig jeder ihrer Figuren einen eigenen Ton verleiht»; 2015 der Roman »Eine Nacht und alles»; 2017 der Roman »Das Dorf«. Für ihre Erzählungen erhielt Katrin Seddig 2008 und 2015 den Förderpreis für Literatur der Hansestadt Hamburg.

Laudatio

»Eine Deutsche Familie« – von nicht mehr und nicht weniger erzählt uns Katrin
Seddig: Drei Generationen, die gemeinsam unter einem Dach wohnen. Noch, möchte man sagen. Helga, die Großmutter, wandelt in ihren Erinnerungen, sie weiß, dass sie bald sterben wird. Thomas, ihr Sohn, lebt mit seiner Familie bei ihr in dem prächtigen Haus in Marienthal, doch auch ihn zieht es fort. Er hat eine Affäre und wohnt vorläufig in der kleinen Wohnung über der Garage.
Es ist ein Provisorium, ein Gefangensein zwischen Wunsch nach familiärer Geborgenheit und der Sehnsucht nach dem Neuen, eine Zerrissenheit, die auch seine Frau Natascha beherrscht: Sie hat die Garagenwohnung einst eingerichtet für ein neues, ein anderes Leben und doch bügelt sie nach wie vor die Hemden ihres Mannes. Auch die Kinder zieht es fort. Der Sohn Alexander wird Polizist, die Tochter Imke engagiert sich politisch gegen den G-20-Gipfel – weitere Risse in dieser Familie wer-den sichtbar, und es ist absehbar, dass sie bald zerbrechen wird.
Katrin Seddig erzählt uns von den Erosionen, die das auslöst: Wie das Politische in das Private ein-dringt, wie neugewonnene Freiheiten alte Konventionen auflösen. Mit feinem Gespür für ihre Figu-ren montiert die Autorin die Stimmen der unterschiedlichen Generationen ineinander und erzählt uns so vom Zerfall der bürgerlichen Institution Familie – wir dürfen uns auf einen klugen Roman über die moderne Gesellschaft freuen. Daniel Mellem

»Eine deutsche Familie« Textauszug

Früher hatten sie richtigen Winter. Harten, blauen Schnee. Helga zieht ihren hellbraunen Steppmantel an und geht auf den Hof. Sie schaut in den Himmel, aus dem sich ein Gewicht auf sie senkt. Sie spürt den Druck im Nacken und über den Augen. Sie muss die Tropfen nehmen. Sie geht ein Stück spazieren, den Weg entlang, an den Häusern der Nachbarn vorbei. Wenn sie einen müden, kleinen Hund hätte. Sie hätte gern einen müden, kleinen Hund, einen, der nicht mehr so heftig am Leben zieht, der – ihr parallel – das Gemäßigte lebt, der aber klein und kindlich ist, den sie auf dem Schoß die Kletten aus dem Fell ziehen könnte. Auf dem Bürgersteig knirscht der Sand. Vorsichtig setzt sie ihre Beine. Sie sieht die anderen Leben in den Fenstern, Frau Späher-Lucke, wie sie die Lichterketten aus der Hecke zieht, Renate Lübcke, die den Beton vor der Garage fegt. Sie grüßt und sie geht. Sie soll sich bewegen. Aber der Druck auf ihren Kopf nimmt zu. Sie muss die Tropfen nehmen. Einmal bleibt sie stehen, und fragt sich, wo ihr Haus ist. Sie muss sich konzentrieren. Sie darf sich nicht so ihren Erinnerungen hingeben. Aber das meiste in ihr ist jetzt Erinnerung. Früher war es nicht so. Es wird immer mehr. Es umfängt sie und sie geht darin umher, wie in einem alten Haus. Es ist ein Heimkehren. Sie weiß, was das bedeutet, aber es macht ihr keine Angst. Sie hustet und spuckt auf den Boden.